Hintergründe zur Ermittlung der Bevölkerungszahlen

Hinweis: Dieser Fachartikel ist im Original von Anett LothÖffnet sich in einem neuen Fenster in „Statistisch gesehen“, dem Online-Magazin des Landesamts für Statistik Niedersachsen (LSN), erschienen und wurde vom Hessischen Statistischen Landesamt für Hessen angepasst. Wir danken dem LSN für die freundliche Bereitstellung der Textgrundlage.

Seit der Veröffentlichung der Zensusergebnisse am 25. Juni 2024 erreicht das Hessische Statistische Landesamt (HSL) aus den hessischen Kommunen vielfach die Frage: „Wo sind ,meine‘ Einwohnerinnen und Einwohner hin?“ Denn nach den vorliegenden Ergebnissen des Zensus lebten am 15. Mai 2022 in Hessen 2,6 Prozent weniger Personen als bisher auf Basis der Bevölkerungsfortschreibung angenommen.

Der folgende Beitrag beschreibt, ausgehend von einer kurzen methodischen Darstellung zur Ermittlung der Bevölkerungszahl im Zensus 2022, den Zusammenhang zwischen dem Zensus, der Bevölkerungsfortschreibung und den Melderegistern. Dabei liefert er mögliche Erklärungsansätze für die Abweichungen zwischen der durch den Zensus 2022 ermittelten Bevölkerungszahl und der Bevölkerungsfortschreibung.

Ermittlung der Bevölkerungszahl im Zensus 2022

Zur Umsetzung des EU-weiten Zensus hat sich Deutschland – wie bereits beim Zensus 2011 – für eine registergestützte Methode entschieden. Das bedeutet, dass bereits vorhandene Verwaltungsregister als Datenquellen genutzt wurden. Für die Ermittlung der Bevölkerungszahl waren dies die Melderegisterdaten, die von den zuständigen Meldebehörden für Zensuszwecke an die Statistischen Landesämter übermittelt wurden. Allerdings sind nicht alle Angaben aus den Registern präzise und aktuell. Manche Personen sind an ihrem Wohnort gar nicht gemeldet, andere stehen zwar im Register, sind aber schon längst umgezogen oder bereits verstorben. Zur Ermittlung der Bevölkerungszahlen im Rahmen des Zensus erfolgte deshalb nicht eine einfache Auszählung aus den Melderegistern; sondern eine Reihe von ergänzenden und korrigierenden Maßnahmen:

1. Mehrfachfallprüfung

Zum einen erfolgte eine Bereinigung innerhalb der von den Melderegistern übernommenen Daten durch eine sogenannte Mehrfachfallprüfung. Bei der dezentralen Führung der Melderegister in Deutschland ist nicht auszuschließen, dass Personen in mehreren Kommunen gleichzeitig mit mehr als einer alleinigen Wohnung oder Hauptwohnung (sogenannte Dublette) oder ausschließlich mit einer oder mehreren Nebenwohnungen gemeldet sind. Im Zuge der Mehrfachfallprüfung werden solche unzulässigen Dubletten und Personen, die ausschließlich mit Nebenwohnungen gemeldet sind, ausgesteuert.

Zum anderen gab es zwei primärstatistische Erhebungen mit dem Ziel der statistischen Registerkorrektur: die Befragung in Wohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften (Sonderbereichserhebung) und die Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis.

2. Erhebung an Anschriften mit Sonderbereichen

Bei der Sonderbereichserhebung handelt es sich um eine Vollerhebung an Wohnheimen (z. B. Studierendenwohnheime) und Gemeinschaftsunterkünften (z. B. Justizvollzugsanstalten). Diese Erhebung war notwendig, weil in Wohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften die Fluktuation häufig sehr hoch ist und daher die melderechtlichen Angaben für die Bewohnerinnen und Bewohner dort ungenau sein können.

Übersichtsgrafik: Sonderbereiche im Zensus 2022
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3. Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis

Mit den Ergebnissen der Haushaltebefragung wurde an zufällig ausgewählten Stichprobenanschriften abgeglichen, wie viele Menschen laut Melderegister in einer Kommune leben müssten, aber faktisch nicht mehr dort wohnten (sogenannte Übererfassungen bzw. Karteileichen) beziehungsweise wie viele Menschen in der Kommune wohnten, aber zum Zensusstichtag (noch) nicht dort gemeldet waren (sogenannte Untererfassungen bzw. Fehlbestände).

Während die Ergebnisse aus der Vollerhebung an Sonderanschriften ausgezählt wurden, erfolgte bei der Haushaltsstichprobe eine Hochrechnung der stichprobenhaft erhobenen Daten auf die gesamte Kommune.

Existenzfeststellung

Die Basis für die Ermittlung von Über- und Untererfassungen waren dabei die Ergebnisse der sogenannten Existenzfeststellung. Im Rahmen dieses Verfahrens mussten die Erhebungsbeauftragten des Zensus (Interviewerinnen und Interviewer der Erhebungsstellen) vor Ort mindestens den Vornamen, den Nachnamen, das Geschlecht und das Geburtsdatum der an den Stichprobenanschriften wohnenden und zu befragenden Personen ermitteln.

Grafik zur Existenzfeststellung im Zensus 2022
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Die Zuständigkeit für die Durchführung der primärstatistischen Erhebungen und damit auch der Existenzfeststellung lag in Hessen bei den 33 kommunalen Erhebungsstellen, die von den kreisfreien Städten, den Sonderstatusstädten mit mehr als 50 000 Einwohnern und von den Landkreisen eingerichtet wurden.

Die Ergebnisse aus den genannten drei Korrekturschritten (Mehrfachfallprüfung, Erhebung an Anschriften mit Sonderbereichen, Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis) ergaben in Kombination die neu ermittelte Bevölkerungszahl zum Zensusstichtag 15. Mai 2022. Die folgende Grafik zum Download fasst die einzelnen Schritte der Bevölkerungszahlermittlung noch einmal zusammen.

Übersichtsgrafik: Ermittlung der Einwohnerzahl im Zensus 2022
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Zensus, Bevölkerungsfortschreibung und Melderegister

Die vom HSL im Zuge eines Zensus ermittelten Bevölkerungszahlen werden in der Folgezeit fortgeschrieben (Bevölkerungsfortschreibung). Dies erfolgt auf Gemeindeebene unter Zugrundelegung der von den kommunalen Standesämtern gemeldeten Geburten und Sterbefälle (Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegungen) sowie der im Meldewesen übermittelten Zu- und Fortzüge (Wanderungsstatistik).

Wegen des im Volkszählungsurteil von 1983 durch das Bundesverfassungsgericht eingeführten „Rückspielverbots“ dürfen Verwaltungen keine Rückmeldungen auf Einzeldatenbasis aus statistischen Erhebungen erhalten. Dies gilt auch für die im Rahmen von Volkszählungen bzw. des Zensus ermittelten Daten. Die Meldebehörden der Kommunen können somit ihre Melderegister nach der Durchführung des Zensus nicht unmittelbar unter Zuhilfenahme dieser aktuellen Erkenntnisse anpassen. Wenn die jeweiligen Kommunen nicht selbstständig aufgrund eigener Erkenntnisse im Hinblick auf die Qualität der Meldedaten tätig werden, verbleiben Fehler in den Melderegistern.

Unterschiedliche Verarbeitung von Zu- und Abgängen

Zusätzliche Unterschiede zwischen Bevölkerungsfortschreibung und Melderegister können sich durch die unterschiedliche Verarbeitung von Zu- und Abgängen ergeben. Während die Melderegister in den Kommunen tagesaktuell geführt werden, verarbeiten die Statistischen Ämter der Länder die Datenlieferungen der Kommunen monatsweise. Darüber hinaus wird in der Statistik ein Fortzug aus einer Kommune erst dann verbucht, wenn die neue Zielkommune diesen Fall als Zugang an das zuständige Statistische Amt gemeldet hat. Somit ergeben sich zeitliche Verschiebungen zwischen der Verbuchung im Melderegister und der Verarbeitung in der amtlichen Bevölkerungsfortschreibung. Auch versehentlich nicht an die Statistik übermittelte Meldevorgänge oder Berichtigungen können zu Differenzen führen.

Zensus als regelmäßige Inventur

Die Qualität der Bevölkerungsfortschreibung hängt somit im Wesentlichen von der Vollständigkeit und Genauigkeit der Datenlieferungen von den auskunftspflichtigen Behörden, aber auch von der Einhaltung melderechtlicher Vorschriften durch die Bürgerinnen und Bürger ab. Grundsätzlich wird die Qualität der zugrundeliegenden Statistiken für die Bevölkerungsfortschreibung als gut eingeschätzt. Trotzdem kommt es mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum letzten Zensus zu Ungenauigkeiten in den Ergebnissen der Bevölkerungsfortschreibung. Daher ist eine regelmäßige Neujustierung der Bevölkerungsfortschreibung durch eine Bestandsaufnahme in Form eines Zensus, quasi als eine Art regelmäßige Inventur, erforderlich. Eine solche „Inventur“ durch einen Zensus führt zu regional unterschiedlichen Anpassungsbedarfen und dadurch zu Abweichungen zur fortgeschriebenen Bevölkerungszahl.

Erklärungsansätze für Abweichungen zwischen den Ergebnissen des Zensus und der Bevölkerungsfortschreibung

Im Folgenden werden mögliche Erklärungsansätze für Abweichungen zwischen den Ergebnissen des Zensus 2022 und der Bevölkerungsfortschreibung dargestellt.

Methodische Änderungen in kleinen Gemeinden

Im Vergleich zum Zensus 2011 erfolgte beim Zensus 2022 in allen Kommunen unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl eine gleichartige statistische Korrektur über die Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis. Beim Zensus 2011 waren in Kommunen mit weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die Korrekturen nicht über eine solche Stichprobe ermittelt worden. Infolgedessen wurde die Fehlerquote der Melderegister in diesen Kommunen damals tendenziell unterschätzt. Grund für das damalige Vorgehen waren die Ergebnisse des Zensustests 2001, die in diesen Kommunen einen geringeren Korrekturbedarf erwarten ließen. Demnach fand beim Zensus 2011 in Kommunen mit weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern stattdessen eine Befragung zur Klärung von Unstimmigkeiten (BKU) statt: Es wurden Personen in der Regel nur an solchen Anschriften persönlich befragt, bei denen es Unstimmigkeiten zwischen den Angaben aus den Melderegistern und den Angaben der Gebäude- und Wohnungszählung gab. Mit den Ergebnissen des Zensus 2011 und dessen Evaluierung stellte man allerdings fest, dass in „kleinen“ Gemeinden der tatsächliche, nachträglich festgestellte, Korrekturbedarf höher war als vorab erwartet.

Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde die Stichprobe für den Zensus 2022 ausgeweitet und ein einheitliches methodisches Vorgehen zur Bevölkerungszahlermittlung unabhängig von der Bevölkerungszahl der Kommunen entwickelt. In der Konsequenz spiegelt sich der höhere Korrekturbedarf bei den Kommunen mit weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern auch in den Ergebnissen des Zensus 2022 wider.

Ein Vergleich der Ergebnisse des Zensus 2011 und 2022 hinsichtlich der Abweichungen bei den Bevölkerungszahlen nach Gemeindegrößenklassen deutet darauf hin. Während beim Zensus 2011 in den Kommunen mit weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die geringsten Abweichungen im Vergleich zur Bevölkerungsfortschreibung zu verzeichnen waren, hat sich dies im Zensus 2022 stark verändert und die Korrekturen im Vergleich zur Bevölkerungsfortschreibung fallen deutlich größer aus. Dieses Ergebnis spricht für den oben beschriebenen „Nachholeffekt“: Die möglicherweise methodisch in Form der 2011 durchgeführten BKU nicht ausreichend korrigierten Bevölkerungszahlen kleiner Kommunen waren Basis der Bevölkerungsfortschreibung und können sich nun in den Ergebnissen des Zensus 2022 durch größere Korrekturbedarfe niederschlagen.

Balkendiagramm zu den Abweichungen zwischen Zensus und Bevölerungsfortschreibung 2011 und 2022 nach Gemeindegrößenklassen in Hessen
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In der nachstehenden Tabelle wird dies deutlich. Während die Kommunen mit einer Bevölkerungszahl von unter 10 000 im Zensus 2011 zur Gesamtkorrektur der Bevölkerungszahl in der Summe keinen Beitrag leisteten, entsprechen die Korrekturen im Zensus 2022 dem Anteil dieser Kommunen an der Gesamtbevölkerung. Der Vergleich des Korrekturbedarfs aus dem Zensus 2022 mit den Ergebnissen des Zensus 2011 zeigt, dass die Veränderungen in den verschiedenen Gemeindegrößenklassen durchaus vergleichbare Größenordnungen erreichen: 

Tabelle zur Bevölkerung und Anteil an der Bevölkerungskorrektur nach Gemeindegrößenklasse im Zensus 2022 und 2011 in Hessen
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Weitere Einflussfaktoren für die Korrekturen

Für die Ergebnisse des Zensus 2022 ist zu berücksichtigen, dass zwischen 2011 und 2022 mehrere Ereignisse stattgefunden haben, die in unterschiedlichem Ausmaß für die Bevölkerungszahlermittlung relevant waren. Infolge der Kriege in Syrien und in der Ukraine fanden erhebliche Wanderungsbewegungen statt, die auch die Bevölkerungszahl in Hessen beeinflusst haben. Nicht immer ließen sich solche Wanderungsbewegungen bereits zum Stichtag 15. Mai 2022 vollständig in den Melderegistern und der Bevölkerungsfortschreibung erfassen. Je nach Kommune waren diese Wanderungsbewegungen unterschiedlich relevant und wirkten sich daher regional unterschiedlich aus.

Vor dem Hintergrund der Fluchtbewegungen ist die melderechtliche Erfassung von ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern generell problematisch. Personen, die beim Zuzug nach Deutschland melderechtlich erfasst wurden, können bereits wieder weggezogen sein, beispielsweise in ihre Herkunftsländer, ohne dass dies wiederum melderechtlich erfasst worden ist. Die häufig ausbleibende Abmeldung von ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern bei Rückzug in ihre Herkunftsländer ist ein bereits aus früheren Bevölkerungsuntersuchungen bekanntes Phänomen. Großstädte, die in der Regel eine stärkere Anziehungskraft für Ausländerinnen und Ausländer ausüben, können von diesem Problem eher betroffen sein. Es können  daher möglicherweise häufiger solche Fehler in den Meldedaten enthalten sein, die wiederum zur Überhöhung der Bevölkerungsfortschreibung führen. Aber auch bei Umzügen innerhalb Deutschlands kann es durch unterschiedliche Schreibweisen von Namen oder Geburtsdaten dazu führen, dass Umzugsmeldungen in der Wegzugskommune nicht verarbeitet werden, weil der entsprechende Datensatz nicht gefunden wird.

Darüber hinaus könnten auch die mit der Corona-Pandemie verbundenen Beschränkungen das Meldeverhalten bzw. die Meldemöglichkeiten von Wanderungen beeinflusst haben. So waren Studierende möglicherweise zum Zeitpunkt des Zensus in den Universitätsstädten mit Hauptwohnsitz gemeldet, hielten sich aber, da keine Präsenzveranstaltungen an der Universität stattfanden, über den gesamten Erhebungszeitraum nicht an ihrem Hauptwohnsitz auf und wurden daher auch nach mehrfachen Kontaktversuchen nicht angetroffen. Folglich konnte ihre Existenz nicht von den Erhebungsbeauftragten festgestellt werden und diese Personen gingen als Übererfassung (Karteileichen) in das Zensusergebnis ein. Das kann unter anderem ein Grund für Abweichungen bei der Bevölkerungszahl in Universitätsstädten sein.

Generell hatte sich bereits bei früheren Volkszählungen und dem Zensus 2011 gezeigt, dass das Meldeverhalten Studierender nicht immer den rechtlichen Vorschriften entspricht. Trotz Wohnortwechsel in die jeweilige Universitätsstadt verbleibt die Meldung mit Hauptwohnsitz häufig bei der Familie. Im Rahmen der Haushaltebefragung des Zensus wurden die Studierenden an der Anschrift der Familie möglicherweise als nicht existent festgestellt und als Übererfassung (Karteileichen) der Bevölkerungszahl abgezogen.

Fazit

Die Gründe für die Abweichungen zwischen der durch den Zensus 2022 ermittelten Bevölkerungszahl und der Bevölkerungsfortschreibung sind vielfältig und regional unterschiedlich ausgeprägt. Dabei ist selten nur ein Grund ausschlaggebend, sondern vielmehr das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Im Wesentlichen hängt es vom Meldeverhalten der Bürgerinnen und Bürger ab, die sich beispielsweise bei Wegzug ins Ausland nicht abmelden oder bei einem Umzug nicht vorschriftsgemäß ab- oder anmelden. Aktuell ermöglicht lediglich ein Zensus in regelmäßigen Abständen eine flächendeckende und einheitliche Kontrolle und damit eine statistische Korrektur des Einwohnerbestands.

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